Aktionskunst: Deutsch-Deutsches Sofa


Der verhüllte Reichstag, Berlin, 29. Juni 1995

Der verhüllte Reichstag
Berlin
29. Juni 1995

Um halb fünf klingelt uns der Wecker aus den Federn. Vom Wiesenplatz nahe der Havel fahren wir im Schlafanzug zu einer Autobahnraststätte, wo die morgendliche Toilette erledigt und das Frühstück eingenommen wird. Dann die Fahrt nach Berlin-Mitte, vorbei am Langen Lulatsch und der Goldelse in Richtung Brandenburger Tor.
Und um die Ecke, da glänzt Christos Meisterwerk silbrigblau in der aufgehenden Morgensonne. Wir sind erstaunt, wieviele Menschen hier schon auf dem weiten Vorplatz lagern, einige liegen in Schlafsäcken und blinzeln uns mit müden Augen an. Etwas weiter ist man schon lebhafter und schlürft das erste Glas Sekt zu Akkorden auf einer Gitarre. Eine Stimmung wie zu Zeiten Woodstocks. Wir haben einen guten Stellplatz für das Sofa gefunden, vor dem kurzgeschnittenen Heckenkarrée am Rande einer Baumreihe.
Es ist die silbrigblaue Stunde der Fotografen, die überall auftauchen mit ihren Apparaten und Stativen. Es ist auch die silbrigblaue Stunde der Meditierer, der Fans, der Kunstbesessenen, der Träumer, die auf der Wiese liegen. Und alle sind in den Bann gezogen von diesem Gebilde, diesem großen glänzenden eingestofften Zauberkasten, und ihre Magier sind Christo und Jeanne Claude. Flagge zeigen, das haben wir gründlich getan, das Sofa verschwindet im Bus für eine kurze Fahrt hinüber auf die andere Spreeseite, wo der verhüllte Reichstag wie ein kantiger Eisberg aus den dunkelblauen Wasserflächen aufragt. Hinter uns ein Teil der Spreemauer, auf der mit schwarzer Farbe die Zahlen der getöteten und ertrunkenen Flüchtlinge angemahnt werden. Doch der Blick wandert immer wieder auf den verhüllten Reichstag, der von hier ungestört genossen werden kann, denn rings um den Reichstag gehts jetzt zu wie auf einem Jahrmarkt. Ein riesiges Volksvergnügen an der Schnittstelle von Ost und West. Man könnte fast auf den Gedanken kommen, die Künstler Jeanne Claude und Christo hätten ein nachträgliches Geburtstagsgeschenk spendiert. So ausgelassen und herzlich hat man Ossis und Wessis noch nie vorher zusammen gesehen, einmal abgesehen von den ersten Freudentränen nach der Maueröffnung. Doch da ahnten die Menschen noch nicht, wie steinig der Weg des Miteinanders werden würde.